top of page
  • AutorenbildMelanie Widmer

Das Flüstern der inneren Weisheit

Sie ist einfach da, ganz still und leise ist sie tief in uns verankert und begleitet uns von früh bis spät. Sie funktioniert wie von selbst, sozusagen auf Autopilot und meldet sich je nach Situation intensiver oder schwächer. «Die Kraft in uns», «ein Gefühl im Bauch», «die verlässlichste Führungskraft», «eine Eingebung» – darf ich vorstellen: die Intuition. Das Buch «Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition» von Michael Winterhoff hat mich zu diesem Thema inspiriert. Grob zusammengefasst handelt dieses Buch unter anderem davon, dass wir als Erwachsene unsere Intuition verlieren. Winterhoff schreibt: «Die Rückkehr zur Intuition heisst somit vor allem eins: die Rückkehr zu uns selbst». Bloss, was ist Intuition und woher kommt sie?

Sie wird mit unterschiedlichen Begriffen und Gefühlen beschrieben und ist umgangssprachlich als Bauchgefühl bekannt. Im «Lehrbuch Psychologie» habe ich folgende leicht nachvollziehbare Beschreibung gefunden: «Die Intuition ist ein müheloser, plötzlicher und automatischer Gefühlszustand oder Gedanke – im Gegensatz zu explizitem, bewusstem Überlegen.» Unsere Erinnerungen, unser Denken und unsere Einstellung bewegen sich auf einer bewussten und einer unbewussten Ebene. Der grössere Teil unserer Prozesse passiert unbewusst und automatisch. Das bedeutet: Immer dann, wenn wir bei Entscheidungen oder Urteilen keine Zeit haben und uns keine Mühe geben, lassen wir uns von unserer Intuition leiten. Sie ist ein unbewusstes Wissen, das bis heute nicht restlos erklärt werden kann – ausser, dass sich Denken und Fühlen nicht trennen lassen.

Meine erste Zeit als Führungskraft war gezeichnet von Unsicherheiten. Vorher hatte ich mich immer auf mich verlassen können, und das war einer der Gründe für meine Beförderung. Ich pflegte einen respektvollen, freundlichen und wertfreien Umgang und empfand dies auch in der ersten Zeit als Führungskraft als ideal. Irgendwann bekam ich den Eindruck, ich sollte jetzt professionell, kühl und allwissend sein. Ich wollte so konsequent sein wie mein aktueller Vorgesetzter, so verständnisvoll wie ein ehemaliger Chef, so kollegial und befreundet wie bisher und eigentlich wusste ich gar nicht recht, ob ich mich selbst und meine neue Aufgabe unter einen Hut würde bringen können. Auf einmal fiel mir auf, dass ich nicht mehr spontan war. Alle meine Aufgaben und die Kommunikation mit meinen Mitarbeiter*innen waren anstrengend, ja sogar mühsam, und ich legte jedes Wort auf die Goldwaage. Ich traf Entscheidungen nur noch rational und ignorierte mein Bauchgefühl. Dadurch habe ich manche Bedürfnisse meiner Mitarbeiter*innen ignoriert. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich in der neuen Rolle zurechtzufinden, dass ich nicht mehr auf meine innere Stimme hörte und sie sogar eher als Schwäche und störend wahrnahm. Ich war ja jetzt eine Führungskraft, es ging jetzt um Fakten, nicht um Gefühle. Meine innere Stimme hatte ich einfach auf stumm geschaltet. Nach wenigen Monaten bezahlte ich dafür einen hohen Preis. Es folgte ein Mitarbeiterkomplott mit Kündigungen und massivem Vertrauensverlust meinerseits. Während dieser ereignisreichen Phase fand ich aber auch zu meiner inneren Kraft zurück, und der Konflikt eskalierte nicht. Im Nachhinein – erst viele Jahre später – war ich in der Lage, die unerfreuliche Situation zu reflektieren. Seither habe ich die «‹Mute›-Taste» in meinen Bauch entfernt, und es gibt nur noch einen Lautstärkeregler.

Meine These ist, dass eine Führungskraft, die «bei sich selbst ist», für eine stabile, verlässliche und vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre sorgt. Sie kann ihre Mitarbeiter*innen dort abholen, wo sie sind, kann Projekte so leiten, dass das gewünschte Resultat erzielt wird, und kann den Argumenten im Kopf und den Eindrücken im Bauch gleichermassen Aufmerksamkeit schenken. Ich bin davon überzeugt, dass die Führungskraft selbst, ihr Team und das Unternehmen dadurch langfristig erfolgreich sein können. Dieses Talent, bei sich selbst zu sein, äussert sich nicht nur im beruflichen Umfeld, sondern ist eine Lebenseinstellung, die sich auch im privaten Bereich als Ausgeglichenheit äussert. Eine Konsequenz davon, dass man seiner Intuition eine Stimme gibt, könnte sein, dass Entscheidungen in dem Moment, wo sie gefällt werden, nicht bis ins Detail begründet und nicht gänzlich nachvollziehbar sind – man kann sich nicht an einem Schema oder an einer Argumentation festhalten, weil eben der Bauch entscheidet. Je nachdem, welchen Führungsstil man gewohnt ist, verlangt das Zulassen der Intuition ein Umdenken und setzt von den Mitarbeiter*innen Vertrauen und Loyalität voraus, da sie der Führungskraft folgen müssen, auch wenn sie ihnen nicht zu jedem Zeitpunkt genau erklären kann, weshalb sie etwas Bestimmtes tut. Die Abwägung zwischen automatischen intuitiven und überlegten rationalen Entscheidungen lässt sich nicht immer gewährleisten. Es braucht einerseits rasche Entscheidungen, andererseits darf man die langfristigen Ziele, die rational entschieden werden, nicht aus den Augen lassen.

Seit wir auf der Welt sind, lernen wir jeden Tag etwas Neues, lernen Menschen kennen und treffen in hoher Kadenz Entscheidungen. Alle diese Erfahrungen, die wir dabei gesammelt haben, sind in uns gespeichert und beeinflussen uns auf verschiedene Weisen. An manche Erfahrungen können wir uns erinnern, an andere – die Mehrheit der Erfahrungen – nicht. Das heisst nicht etwa, dass sie verschwunden oder gelöscht sind, sie existieren in unserem Unterbewusstsein weiter. Schauen wir uns die bewusste Seite an: Wir beurteilen Situationen, nachdem sie passiert sind, und interpretieren sie nach Belieben – ganz getreu dem Motto, im Nachhinein sei man immer schlauer. Zudem neigen wir dazu, unsere Fähigkeiten zu überschätzen, und haben die Tendenz, sogar zufälligen Begebenheiten eine Begründung unterzuschieben. «Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen es rückwärts», sagte der Philosoph Søren Kierkegaard treffend. Unser Bewusstsein nimmt also ständig Einfluss auf unser Unterbewusstsein und damit auf unser Bauchgefühl, das uns je nach Erfahrungswert durchaus fehlleiten kann. Weder das bewusst Durchdachte noch das spontan Empfundene ist fehlerfrei, beide bergen Risiken. Wir sollten ihre gegenseitige Beeinflussung weder ignorieren noch unterschätzen. Entscheidend dürfte sein, beiden ihre Stimme zu geben und soweit auf ihre je eigenen Stärken zu vertrauen, dass sie sich im Alltag der Führungsarbeit ergänzen können.

Zum Schluss möchte ich noch Heinz Erhart, ein deutscher Komiker mit den Worten zitieren: «Sie dürfen nicht alles glauben was Sie denken».



Literaturquellen

  • «Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition», Michael Winterhoff, Goldmann Verlag, ISBN 978-3-442-17410-2

  • Lehrbuch Psychologie, 3. Auflage, David G. Myers, S. 18, 371, Springer-Verlag, ISBN 978-3-642-40781-9

  • «Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen es rückwärts», Philosoph Søren Kierkegaard, Lehrbuch Psychologie, 3. Auflage, David G. Myers, S. 19, 371, Springer-Verlag, ISBN 978-3-642-40781-9

  • «Sie dürfen nicht alles glauben was Sie denken», Heinz Erhart, deutscher Komiker, https://www.impulse.de/management/selbstmanagement-erfolg/sprueche-mut-machen/7307704.html, 23.09.2020

bottom of page